5. Mentales Üben – “Blind” üben
5.1 Mentales Üben
Stellen wir uns vor, wir müssten eine wichtige Rede halten und sind entsprechend aufgeregt. Was tun wir? In Gedanken gehen wir jeden Satz und jedes Wort wieder und wieder durch, stellen uns die Situation vor und uns mitten drin.
Beim Slalom sehen wir vor dem Start die Sportler, wie sie gedanklich jede Kurve nachvollziehen und sich sogar entsprechend bewegen. Mentales Training scheint also sehr effektiv zu sein.
Auch beim Klavier spielen ist das „Üben im Kopf“ sehr hilfreich, um ein Stück gut kennen zu lernen, sich sowohl der Einzelteile wie auch des Ganzen bewusst zu sein und gut vorbereitet Auftritte und Konzerte zu meistern.
Mentales Üben bedeutet Üben in seiner Vorstellungskraft, ohne das Instrument tatsächlich zu spielen. Wir üben also geistig mit Hilfe unserer Imagination und konzentrieren uns dabei auf verschiedene Aspekte. Mentales Üben ist eine sehr sinnvolle Ergänzung zum tatsächlichen Üben am Instrument.
Mentales Üben – Vorteile
- Unabhängigkeit vom Instrument bzw. die Möglichkeit, überall zu üben
- Vermeidung von körperlicher Über- bzw. Belastung
- Schulung der Klang- und Bewegungsvorstellung, d.h. tieferes Bewusstsein musikalischer Abläufe und der dazu nötigen Bewegungen
- mehr Selbstkontrolle
- größere technische Sicherheit
- Aufspüren von Fehlerquellen und Ungenauigkeiten
- Sicherheit im Auswendigspiel
- Verringerung der Übezeit
- Abbau von Lampenfieber
Auf diese Weise lernen wir das Werk in seinen Details wie auch als Ganzes nicht nur auswendig, sondern auch „inwendig“ kennen. Es ist sicher und auf vielfältige Weise in unserem Kopf abgespeichert, was uns auch für Auftritte und Konzerte eine große Sicherheit gibt.
Mentales Üben – Nachteile
- hohe Konzentration erforderlich und daher nur kurzzeitig anzuwenden
- nur bedingt für Anfänger geeignet
Zum mentalen Üben benötigen wir ein gut ausgebildetes inneres Ohr sowie Kenntnis und Erfahrung über die zur Klangerzeugung notwendigen Bewegungen. Körper, Nervensystem und Sinne, vor allem das Gehör, befinden sich beim Klavierspielen in einem stetigen Prozess der Interaktion. Daher ist mentales Üben nur bedingt für Anfänger geeignet. Ihnen fehlt die Überprüfung dessen, was sie sich vorstellen und sie müssen sich eine detaillierte Klangvorstellung und solide Klaviertechnik erst aufbauen.
Trotzdem kann im Kleinen auch für sie das mentale Üben hilfreich sein, wenn sie mit Leichtem und Wenigem anfangen. Sie können z.B. beim Spielen einfach mal Takte weglassen und sie sich nur vorstellen. Dann können sie sich wie beim Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit nur einzelne musikalische Elemente vorstellen wie eine Melodie oder Basslinie. Sie können sich gezielt schwierige Stellen und kleinste Abschnitte vorstellen oder imaginieren, wie sich Durchlässigkeit und ein stabiler Sitz anfühlt.
Aspekte mentalen Übens
Auch Fortgeschrittene müssen nicht gleich alles auf einmal mental üben, sondern können ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte richten:
Inneres Hören
Wir nutzen dazu die akustische Imagination. Das Werk wird innerlich gehört und wir können uns auf diese Weise nur auf die Verfeinerung der klanglichen Gestaltung konzentrieren, ohne auf die Technik zu achten. Wir können die Harmonik und/oder die Melodik imaginieren. Wir können uns überlegen, welche Instrumente in einem Orchester die einzelnen Stimmen spielen könnten und unser Klangbewusstsein schulen und weiter differenzieren.
Motorisches Gedächtnis
Eine weitere Schlüsseltechnik des mentalen Trainings ist die kinästhetische Imagination. Das intensive Denken und Spüren von Spielbewegungen steht bei dieser Imaginationsform im Vordergrund. Wie fühlt es sich an, diese Stelle zu spielen? Welche Bewegungen nutze ich und wie koordiniere ich meinen Körper?
Dabei befindet sich das motorische Gedächtnis und die kinästhetische Imagination immer in Verbindung zum Klang und der Klangvorstellung! Wir stellen uns vor, was wir hören wollen und imaginieren die entsprechenden Bewegungen dazu!
Das Gefühl eines stabilen und wachen Sitzes mit der dazu gehörenden Durchlässigkeit aller Gelenke kann allerdings auch ohne Klangvorstellung memoriert werden.
Visuelles Gedächtnis
Eine weitere Technik des mentalen Übens ist die visuelle Imagination. Wir betrachten mit unserem inneren Auge einzelne Spielbewegungen, die Orientierung auf der Tastatur oder den Notentext. Wir können uns selbst auch beim Spielen vorstellen wie in einem Film, von außen betrachtet.
Strukturelles Gedächtnis
Hier gehen wir sehr analytisch vor und memorieren Strukturen, Phrasen, Themen und Entwicklungen des Stücks, möglichst zusammen mit harmonischen Zusammenhängen und Besonderheiten.
Gedächtnis für Emotionen und Körpergefühle
Die emotionale Imagination verbindet gezielt bestimmte Empfindungen oder emotional gefärbte Bilder mit musikalischen Abschnitten. Wir können phantasievolle Geschichten oder Metaphern zu Stellen und kompletten Werken erfinden oder versetzen uns wie ein Schauspieler in eine Theaterrolle.
Verbale Imagination
Eine Technik, die die verschiedenen Gedächtnisarten miteinander verbindet, ist die verbale Imagination. Durch inneres oder lautes Sprechen verbalisieren wir spieltechnische, musikalische und emotionale Aspekte. Hilfreich ist dies u.v.a. bei Stellen, die immer wieder ein bisschen anders auftreten oder bei der Reprise eines Sonatensatzes, bei denen das musikalische Material in eine andere Tonart moduliert als in der Exposition.
Mentales Üben will geübt und gelernt sein! Wir fangen erst einmal mit wenig an und werden merken, dass wir besser werden. Sehr geübte Musiker können sich tatsächlich alles auf einmal vorstellen und wir kennen die Geschichten von Gieseking oder Rubinstein, die während einer Zugfahrt neue Stücke mit dem Notentext vor sich mental lernten, um sie anschließend, ohne sie je am Instrument geübt zu haben, im Konzert zu spielen.
5.2 „Blind“ üben
„Schließe die Augen und du wirst sehen!“
Joseph Joubert
Wenn wir etwas besonders genießen, sei es bei einem guten Essen oder einem schönen Konzert, schließen wir bisweilen die Augen. Wenn unser Sehsinn ausgeschaltet ist, schärfen sich nämlich unsere anderen Sinne und wir schmecken, hören und fühlen intensiver.
Das können wir auch beim Klavierspielen nutzen!
Unser Sehsinn ist sehr dominant und verbraucht etwa 60% der für die Sinnesorgane bereitstehenden Hirnverarbeitungskapazität. Wenn wir auf den Notentext oder auf die Tastatur schauen, stehen also weniger Ressourcen bereit zum Hören und Fühlen.
Um unsere Aufmerksamkeit ganz auf den Klang und unsere Klangerzeugung zu lenken, schließen wir die Augen. Dazu müssen wir zumindest stellenweise den Notentext oder das, was wir gerade üben wollen, auswendig parat haben.
Vorteile des „Blind“ Übens
Wir stellen erfreut und vielleicht erstaunt fest, dass das Spielgefühl ein ganz anderes ist:
- die auditive und körperliche Wahrnehmung wird in hohem Maße geschärft
- wir sind wacher und konzentrierter
- unser Tastenkontakt intensiviert sich
- wir erlangen Sicherheit und Vertrauen, auch wenn wir uns zunächst evtl. orientierungslos fühlen
- wir bewegen uns fließender, runder, geschmeidiger
- unsere musikalische Ausdruckskraft erhöht sich
- wir spielen besser vom Blatt (prima vista), weil wir beim Klavierspielen nicht auf die Tastatur schauen müssen und generell eine bessere Orientierung besitzen
Gerade auch schwierige Stellen, Sprünge und technische Übungen sollten „blind“ geübt werden. Wenn wir sie „blind“ spielen können und dann die Augen öffnen, werden solche Stellen plötzlich einfach. Wir bekommen eine ganz andere Sicherheit und in Beziehung zu unserem Körper ein Gefühl für die Abstände und Räume auf der Tastatur. Wir vertrauen uns und unserer Wahrnehmung (wer Star-Wars-Fan ist, denke an die berühmte Szene in Episode IV, in der Luke Skywalker den Todesstern zerstören will und nur noch einen einzigen Schuss hat – er hört „möge die Macht mit dir sein“, schließt die Augen, vertraut ganz seinem Gefühl und….gewinnt).
Wer das für unmöglich hält, denke nur an das phantastische Spiel blinder Pianisten wie Stevie Wonder, Ray Charles und Nobo Tsujii:
„Blind“ üben lohnt sich!
Und hier geht es weiter mit den anderen Beiträgen über ein effektives Üben mit Spaß und Erfolg:
Wohl das Beste, was ich in dieser Form so zusammengefasst lesen durfte. Es deckt sich mit meinen Erfahrungen als Klavierspiel-Amateur, wobei hier sicherlich Berufs-Pianisten ebenfalls angesprochen werden. Das Schwierigste scheint die mentale Imagination von Tastenbild, Notentext, begleitenden Emotionen und das Vorausdenken des erwünschten Klangbildes zu sein. Sehr hilfreich dabei sind vorausgehende Entspannungsübungen, Yoga und Meditation. Das Gehirn entwickelt mit der Zeit diese innere Vorstellungskraft trotz anfänglicher Misserfolge. Irgenwann fällt es einem immer leichter, eine inwändige musikalisch belebte geistige Landschaft zu entwickeln und diesen wachsenden inneren Reichtum dann auch zu geniessen. Danke für diese Texte.
Es zieht mich “mit Macht” ans Klavier! Aber nicht nur das, sondern in gleicher Weise an die Noten, zum Textmarker, zur Harmonieanalyse… ihr Text ist außerordentlich motivierend und hat mir viele neue Einblicke eröffnet. Hierfür ganz herzlichen Dank
Großartig! Ich bin Geiger und praktiziere das mentale Üben schon lange: als Kind in der einstündigen Bahnfahrt zum Geigenunterricht habe ich Alles geübt, was ich in der Woche hätte üben sollen… Sehr effektiv. Nachteil: es ist schon anstrengend und man träumt nachts die Fingersätze (kann die dann aber am nächsten Tag auch.).