4. Ein neues Klavierstück: üben – hören – entdecken
Wir wir an ein neues Klavierstück herangehen, prägt unser Erleben und die Qualität unserer späteren Interpretation in hohem Maße!
Entdeckungsreise mit allen Sinnen
Wir können diese Situation mit einer Entdeckungsreise vergleichen: wenn wir ein neues Land oder eine fremde Stadt erkunden wollen, werden wir nicht nur eine Stadtführung machen! Gemütlich bummeln wir durch unbekannte Straßen, um die Atmosphäre aufzunehmen, besuchen Kneipen und Cafes, bestaunen begeistert Sehenswürdigkeiten, lernen Einheimische kennen, hören neue Klänge und Geräusche, riechen exotische Gerüche, fühlen die Stimmung… . Wir erleben also diese Stadt mit allen Sinnen aus vielen verschiedenen Perspektiven, die zusammen ein Gesamtbild ergeben, das von unseren individuellen Eindrücken und Gefühlen geprägt ist.
Perspektiven erleben
Genauso ist es auch mit einem neuen Stück! Das Werk hörend und fühlend aus möglichst vielen Perspektiven wahrzunehmen, ist ein Erlebnis und eine wahre Entdeckungsreise! Die vielen Wahrnehmungen befruchten sich gegenseitig und ergänzen sich zum künstlerischen Gesamtbild – eine Interpretation entsteht.
Im Versuch, das Stück so weit wie möglich musikalisch zu durchdringen, zu verstehen und so zum Klingen zu bringen, wie wir uns das vorstellen, lernen wir es fast automatisch. Die manuelle Umsetzung ist also die Folge der musikalischen Beschäftigung mit dem Stück!
Der umgekehrte Weg, also Üben zum Zweck, das Stück „in die Finger“ zu bekommen, um dann am Ende musikalisch daran zu arbeiten, führt zu einem mechanischen und klanglich undifferenzierten Klavierspiel! Denn leider haben wir über lange Zeit schlechte Klänge und demzufolge falsche Bewegungen gespeichert, die wir nur schlecht wieder loswerden!
Wir musizieren – und das sollten wir bei der Erarbeitung eines Stücks von Anfang an tun!
Vorfreude und Neugier
Beginnen wir nun fröhlich unsere Reise in das musikalische Neuland! Dabei sollte uns die Länge dieses Textes nicht abschrecken! Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden! Wenn wir Rom besuchen und dort Urlaub machen, denken wir auch nicht:„Was für eine große Stadt! Wie soll ich die jemals besichtigen und kennen lernen!“
Nein – wir machen einfach eins nach dem anderen, lassen uns Zeit, genießen das, was wir tun und wählen aus nach dem, worauf wir Lust haben.
Dazu lade ich Sie auch in diesem Beitrag ein!
Übersicht:
4.1 Besichtigen
- Ein neues Klavierstück: Stückauswahl
- Notentext lesen und innerlich hören, Großform erfassen
- Notentext ansatzweise nach den eigenen Möglichkeiten vom Blatt spielen
- Das Stück nicht immer von vorn üben, schwierige Stellen frühzeitig angehen
4.2 Eintauchen
- Ohren auf durch verschiedene Hörperspektiven
- Wer hören will, wird fühlen
- 1. Hörperspektive: stimmenweise üben (horizontales Hören)
- 2. Hörperspektive: vertikales Hören
- Zwischenfrage: gleich zusammen mit beiden Händen beginnen oder erst einzeln üben?
- 3. Hörperspektive: Gerüst herausfinden – Töne weglassen
- 4. Hörperspektive: Gerüst herausfinden – Töne hinzufügen
4.3 Erkennen
4.1 Besichtigen
Ein neues Klavierstück: Stückauswahl
Ein Stück, das uns packt, fasziniert und neugierig macht, motiviert uns mehr als ein Stück, das wir vielleicht nur spielen, um etwas Bestimmtes zu lernen. Wenn es im Schwierigkeitsgrad und musikalischem Anspruch auf den vorherigen Stücken aufbaut, ersparen wir uns Frustrationen und mögliche Durststrecken. Zu viel Neues auf einmal kann tatsächlich zu viel sein.
Manchmal kommt es vor, dass wir ein Stück spielen wollen, das eigentlich noch zu schwer für uns ist. Unser Lehrer wird die Entscheidung, das Stück trotzdem zu erarbeiten, von unserer individuellen Situation abhängig machen:
- er kann das Stück als nicht zu weit entferntes Ziel positionieren, für dessen Verwirklichung es sich lohnt, vorher einige vorbereitende Stücke zu lernen.
- er erarbeitet es direkt mit uns. Die enorme Faszination und Motivation kann uns trotzdem sehr nach vorne bringen, auch wenn wir das Stück nicht konzertreif aufführen werden.
- er verschiebt die Arbeit am Stück auf später, weil die Nachteile die Vorteile überwiegen.
Grundsätzlich kann die Stückauswahl aus ganz verschiedenen Gründen erfolgen:
- aus Spaß, weil wir dieses Stück schon immer spielen wollten.
- um das eigene Spektrum an musikalischen und technischen Fähigkeiten immer mehr zu erweitern.
- um gezielt bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben.
Der letzte Punkt ist besonders wichtig in der Vorbereitung auf Prüfungen und Wettbewerbe. Trotzdem sollten wir Lust haben auf die Stücke, die wir spielen. Wir Pianisten haben das unglaubliche Glück, über eine riesige Auswahl an wunderbarer Klavierliteratur aller Schwierigkeitsgrade zu verfügen. Die meisten großen Komponisten von Barock, Klassik, Romantik, Moderne etc. haben für Klavier komponiert. Aus diesem reichen Fundus dürfen wir schöpfen und so wird jeder Klavierspieler für ihn geeignete Stücke finden, die ihn begeistern, neugierig machen, vorwärts bringen!
Notentext lesen und innerlich hören, Großform erfassen
Wenn wir den Notentext eines Stückes zum ersten Mal vor sich liegen haben, können wir erst einmal versuchen, ihn aus einer Art Vogelperspektive wahrzunehmen: wir setzen uns gemütlich aufs Sofa, schauen uns den Notentext an und versuchen uns vorzustellen, wie er klingen könnte. Welchen Charakter könnte das Stück haben, in welchem Tempo, welcher Taktart ist es notiert? Welche Vortragszeichen gibt es, was bedeuten sie, in welcher Tonart steht das Stück? Wo sind Phrasenanfänge, wo Ähnlichkeiten, wo Unterschiede, welche Entwicklungen und Strukturen gibt es? So gewinnen wir einen Überblick und eine grobe erste Klangvorstellung.
Notentext ansatzweise nach den eigenen Möglichkeiten vom Blatt spielen
Nach diesem Einstieg ist es sinnvoll, das Stück vom Blatt zu spielen. In der Regel funktioniert das nur bruchstückhaft, aber selbst wenn wir nur die Melodie spielen oder ein paar Akkorde, bekommen wir einen Eindruck vom Klang und können besser einschätzen, ob wir mit dem Lesen des Notentextes und der daraus resultierenden Klangvorstellung einigermaßen richtig gelegen haben.
Das Stück nicht immer von vorn üben, schwierige Stellen frühzeitig angehen
Wenn wir nun beginnen, intensiv zu üben, können wir Phrasen und Entwicklungen viel besser einordnen und wissen eher, wo wir im Gesamtverlauf des Stückes stehen. Es ist sehr sinnvoll, nicht immer von vorn mit dem Üben zu beginnen, sondern schwierige Stellen im gesamten Stück parallel herauszugreifen und verschiedene Teile gleichzeitig zu üben. Beginnen wir immer von vorn, haben wir am Ende des Erarbeitungsprozesses den Anfang viel mehr und häufiger geübt als den Schluss, was zu dessen Lasten geht.
4.2 Eintauchen
Ohren auf durch verschiedene Hörperspektiven
Wie beginnen wir nun mit dem Üben? Zur Beantwortung dieser Frage ist es ausnahmsweise sinnvoll, das Pferd von hinten aufzuzäumen:
Wie soll denn das Stück am Ende klingen?
Sind wir zufrieden, wenn wir das Stück irgendwie auf die Tasten bekommen? Sind wir zufrieden, wenn wir die richtigen Töne zur halbwegs richtigen Zeit spielen oder geht es uns um mehr? Wollen wir uns emotional ausdrücken und ganz klar in unserer musikalischen Aussage sein? Wollen wir das Stück wirklich kennen lernen, wollen wir eine persönliche Interpretation, die diesen Namen auch verdient?
Wenn wir das wollen, sollten wir auch so üben! Unser Üben besteht dann in einem „hörenden Erforschen“ aller musikalischer Aspekte eines Stücks, bei dem die manuelle Bewältigung sich aus der musikalischen Arbeit ergibt und nicht umgekehrt. Unser Üben ist dann gleichbedeutend mit der Wahrnehmung und dem emotionalen Erleben der Klänge und Klangstrukturen, der Formen und Entwicklungen eines Stücks und ihrer ständigen Verfeinerung. So lernen wir unser neues Klavierstück wirklich kennen! Wir verbinden Klänge mit Bilder, Metaphern, Charakteren und Geschichten, wir fühlen Stolz, Trauer, Freude, Dramatik, Sehnsucht, Glück … .
Wer hören will, wird fühlen
Die Arbeit eines Dirigenten, der sich sehr intensiv mit dem Notentext auseinandersetzt, kann uns als Vorbild dienen. Krzysztof Urbanski hat diese Vorgehensweise sehr schön beschrieben:
„Ich sehe die Noten vor mir, wenn ich dirigiere. Ich erarbeite mir ein Stück, indem ich mich ans Klavier setze und das Stück durchspiele, jede einzelne Note, jede Stimme, da kann man Stunden mit einer Seite verbringen. Dann setze ich mich in meinen Sessel, setze mir Ohropax ein und höre das Stück im Kopf, probiere Dinge aus, als würde ich es auf einem Synthesizer spielen. So entwickle ich meine Interpretation. Die versuche ich dann mit dem Orchester zu wiederholen.“ http://www.concerti.de/de/554/interview-krzysztof-urbanski-ich-bin-nicht-gut-in-kompromissen.html
Um ein Stück wirklich in all seinen Facetten, nicht nur aus- , sondern inwendig kennen zu lernen, sollten wir ein Stück aus möglichst vielen Hörperspektiven wahrnehmen und erleben. So als wäre es ein wunderschönes, geliebtes Schmuckstück, das wir genauestens erfassen und betrachten wollen. Von jeder Seite, von fern und nah, oben und unten und sogar „unter der Lupe“, mit der wir kostbare Details wahrnehmen, um sie anschließend wieder in den Gesamtkontext einzuordnen.
Die Gesamtheit der Perspektiven, von denen ich im folgenden die wichtigsten nennen möchte, ermöglichen, dass der Schüler das Stück in seinen Strukturen und musikalischen Elementen in immer wieder anderer Weise von innen heraus erlebt und hört. Das macht viele Hinweise des Lehrers, also Einflüsse von außen, überflüssig und hat ein sehr differenziertes, ausdrucksstarkes und persönliches Spiel zur Folge. Gleichzeitig ist es auch die effizienteste Herangehensweise, die von Anfang an die Erarbeitung des Stücks mit seinem musikalischen und emotionalen Gehalt verbindet und durch die geringe Fehlerquote ein sehr sicheres Spiel zur Folge hat.
1. Hörperspektive: stimmenweise üben (horizontales Hören)
Eine der wichtigsten Erarbeitungsschritte ist das „stimmenweise Üben“! Jedes Stück besteht aus Stimmen, ähnlich einem Orchester, dessen Gesamtklang aus vielen verschiedenen, sich überlagernden Stimmen der verschiedenen Instrumente besteht. Diese horizontalen Klangverläufe sind ein wesentliches Strukturmerkmal jeder Musik und stehen im Dialog miteinander. Sie können sich vereinen, widersprechen, ergänzen, stören u.v.a.m. Es ist wichtig, dass wir dieses „horizontale Hören“ hören lernen, wenn wir ein Stück erarbeiten. Dabei lernen wir es automatisch auch spielen.
Beispiel
Nehmen wir als Beispiel den Beginn des bekannten a-moll Walzers op. posthum von F. Chopin:
Melodie
Hier sehen wir in der rechten Hand gelb markiert die Melodie. Wenn wir sie uns erarbeiten, stellen wir sie uns erst einmal im Geiste vor, können sogar versuchen, sie nach unseren Möglichkeiten zu singen, spielen sie dann und erfreuen uns an den Tönen und musikalischen Gestalten.
Je nach unseren Fähigkeiten wählen wir kleine Schritte der Erarbeitung wie Noten lesen, Fingersatz überlegen, Rhythmus klatschen etc. oder größere Schritte aus. Wir hören und sehen, dass die Melodie wie bei der Intonation unserer Sprache in der Tonhöhe und Dynamik wellenförmig auf- und absteigt, sich spannt und entspannt (Phrasierung). Wir überlegen, wo wir denn hinspielen wollen, wo unser Ziel ist. Bögen, Vortragszeichen etc. geben uns Hinweise auf die Vorstellungen des Komponisten und wir überlegen, welchen Charakter diese Melodie hat und wie wir sie weiter gestalten wollen. Wir spielen diese Melodie bald schon im Originaltempo.
Wie schnell wir dabei vorgehen, hängt allerdings von unseren Fähigkeiten ab (s. Klavier üben – Grundsätze und Üben – wie kann ich es mir leichter machen). Wir lassen uns die Zeit, die wir brauchen und setzen uns nicht unter Druck!
Bass
Dann entdecken wir, dass in der linken Hand die ebenfalls gelb markierte Bassstimme diese Melodie begleitet und spielen diese Basslinie erst einmal allein (ohne Akkorde, aber mit Pedal!), so wie es die Cellogruppe im Orchester auch tut. Auch die Bassstimme hat eine Richtung und die Töne klingen nicht gleich laut. Wir finden die richtigen Bewegungen (Arm nach vorne, loslassen, s. Klaviertechnik 2 – der Arm), um den Basstönen einen warmen, vollen Glockenklang zu verleihen. Sie bilden das Fundament. Auch die Basslinie können wir bald im Tempo spielen.
Melodie und Bass
Dann kombinieren wir die beiden Stimmen von Melodie und Bass und hören auf die dynamische Differenzierung. Wir erinnern uns, dass die Saiten oben im Diskant kürzer sind als unten im Bass und spielen die Melodie lauter und den begleitenden Bass leiser.
Dabei brauchen wir zunächst Zeit: immer wenn etwas Neues kommt, reduzieren wir das Tempo so weit, dass alles klappt und wir keinen Stress haben.
Akkorde
Wir erkennen, dass die innenliegenden, nicht markierten Akkorde die mittlere Klangschicht/Stimme bilden und spielen sie mit der linken Hand. Wir hören, dass diese Akkorde zueinander in Beziehungen von Spannung – Entspannung stehen und entdecken, dass der Bass mit diesen Akkorden eine harmonische Einheit bildet.
Um die Abfolge der Harmonien besser in ihren Spannungsverhältnissen hören und wahrnehmen zu können, spielen wir Bass und Akkorde gleichzeitig mit beiden Händen (Bass links, Akkorde rechts). Dabei hören wir beispielsweise, dass der dritte Takt die meiste Spannung hat, die sich im vierten Takt auflöst. Wir fragen uns möglicherweise, warum das so ist und bauen unsere Kenntnisse in Harmonielehre aus.
Bass und Akkorde
Anschließend spielen wir die unteren beiden Klangschichten wie notiert, also die linke Hand einzeln mit ihren zwei Stimmen. Wir differenzieren sie dynamisch, indem wir die Basslinie lauter spielen als die Akkorde, die dreistimmig den Bass färben und nur sehr leise gespielt werden dürfen. Wir wählen ein Tempo, in dem dies möglich ist.
Melodie, Bass, Akkorde
Wenn wir die drei Stimmen oder Klangschichten aus Melodie, Bass und innenliegenden Akkorden sowohl für sich wie auch in ihren Kombinationen auf diese Weise hörend erfahren haben und spielen können, fügen wir sie alle drei zusammen. Unser Tempo wird zunächst sehr langsam sein und wir werden vermutlich abschnittsweise vorgehen.
Dabei hören wir, dass drei Stimmen drei dynamische Stufen bedeuten, die in sich selbst auch phrasiert und gestaltet werden wollen. Die Melodie wird die lauteste Stimme sein (etwa mf), die Basslinie p und die Akkorde pp. Da Lautstärken grundsätzlich relativ sind und in ihrer Stärke und Wirkung vom Kontext abhängen, sind Angaben wie mf, f, p, pp etc. immer mit dem Ohr zu kontrollieren.
Vielleicht machen Sie die Erfahrung, dass die Kombination aller drei Stimmen nach den vorherigen Übeschritten gar nicht mehr so schwierig ist!
„Suche im piano das forte und im forte das piano!“,
sagte V. Margulis. Diese wunderschöne Umschreibung meint genau das, was hier gerade gesagt wurde: wenn ein Komponist ein piano in den Notentext schreibt, wird keinesfalls alles piano gespielt! Nur der Gesamtklang ist im piano verortet.
Wenn verschiedene Stimmen erklingen, wird jede Stimme in einer anderen Dynamik gespielt. Im Gesamtklang piano wird es eine Stimme (z.B. die Melodie) geben, die ungefähr forte gespielt werden muss. Im Gesamtklang forte wird es Stimmen geben (z.B. begleitende Innenstimmen), die piano und oft sogar pp gespielt werden müssen. Ein sehr transparentes, differenziertes und ausdrucksstarkes Klavierspiel ist die Folge!
Stimmen instrumentiert vorstellen
Wir Pianisten müssen die verschiedenen Stimmen unterschiedlich laut spielen, weil wir anders als ein Orchester sehr viel weniger Klangfarben zur Verfügung haben. Wir haben als Parameter der Gestaltung die Dynamik, Phrasierung, Artikulation, Agogik etc. zur Verfügung. Gleichzeitig hat unser Instrument verschiedene Saitenlängen mit unterschiedlicher Klangmasse, die wir ausgleichen müssen.
Es hilft zur Verfeinerung der eigenen Klangvorstellung sehr, sich die Stimmen eines Klavierwerks instrumentiert vorzustellen. Zu überlegen, welches Orchesterinstrument welche Stimme spielen könnte, ist sehr hilfreich! Wenn wir innerlich differenzierter hören, spielen wir auch differenzierter.
Sehr sinnvoll ist auch, Orchesterwerke (z.B. Sinfonien, Opern) des Komponisten unseres Klavierstücks zu hören, die Partituren zu lesen und zu erkennen, wie er instrumentiert. Daraus kann man dann Schlüsse für die klangliche Realisierung eines Klavierstücks (z.B. einer Sonate) ziehen.
Musikalische Struktur erleben
Das stimmenweise Üben ist ein Beispiel für ein Üben, das sich aus der Struktur des Stückes ergibt und das wichtige musikalische Elemente (hier Melodieverlauf, Basslinie, harmonischer Verlauf, Begleitung der Melodie…) hörbar und erfahrbar macht.
Oft wird diese Herangehensweise gleichgesetzt mit „(jede Hand) einzeln üben“, was nicht stimmt. Eine Stimme kann auf beide Hände verteilt sein und mehrere Stimmen können mit einer Hand gespielt werden. Nur wenn jede Hand eine Stimme spielt, ist das stimmenweise Üben mit dem einzelnen Üben jeder Hand kongruent. Hier im Walzer spielt die linke Hand zwei Stimmen und wir haben vielfältige Übeschritte kennengelernt, die z.T. beide Hände benötigen (harmonische Struktur).
Das stimmenweise Üben ermöglicht uns, das Stück in seinen musikalischen Strukturen zu erleben und zu hören und ein tiefes musikalisches Verständnis zu entwickeln. Fast nebenbei lernen wir diese Stimmen auch zu spielen und die entsprechenden Bewegungen dazu zu finden. Das Ergebnis klingt transparent, persönlich und ausdrucksvoll!
2. Hörperspektive: vertikales Hören
So gut wie jedes Stück hat Stimmen. Diese Stimmen sind horizontale Klangverläufe, die jede für sich gestaltet und phrasiert werden. Das Hören auf diese Klangverläufe nenne ich horizontales Hören. Jedoch klingen die einzelnen Stimmen auch zusammen. In einem Moment erklingen oft mehrere Töne gleichzeitig und bilden eine Harmonie, einen Akkord. Auf diese Zusammenklänge zu hören bezeichne ich als vertikales Hören.
Beispiel
Probieren wir das am Beginn des ebenfalls sehr bekannten Preludes op. 28,4 von F. Chopin:
Klangteppich
Die Melodie besteht in den ersten Takten bis auf die Auftakte aus den sich abwechselnden Tönen h’ und c”, die Bewegung der Melodie ist also auf ein Minimum beschränkt. Nun könnten wir denken, „wie langweilig“, wäre da nicht die harmonische Begleitung der linken Hand! Sie färbt diese Melodie mit ihren häufig chromatischen Akkordprogressionen und bildet einen schimmernden, changierenden Klangteppich, auf dem die Melodie sich klagend erhebt.
Wollen wir dieses musikalische Kleinod in all seinen Facetten durchhören und ausloten, müssen wir u.a. die Perspektive des vertikalen Hörens einnehmen. Das bedeutet, dass wir jedes h’ und c” der Melodie mit den mit ihnen zusammenklingenden Akkorden spielen! Wir lassen also die Akkordrepetitionen weg und hören, wie anders in Klang und emotionalem Ausdruck jedes h’ und c” erklingt.
Färbung der Melodietöne
Das h’ in Takt 1 klingt mit dem darunter befindlichen e-moll-Sextakkord in einer Konsonanz zusammen – wir hören keine Dissonanzen bzw. Reibungen. Der Sextakkord, bei dem sich nicht der Grundton, sondern die Terz im Bass befindet, bewirkt einen schwebenden Klang und lässt uns etwas im Ungewissen, wie es denn nun weitergeht. Es ist ungewöhnlich, dass zu Beginn kein Grundton im Bass ist und um die klangliche Einzigartigkeit dieses Sextakkords wahrzunehmen, können wir auch mal das h’ mit dem e-moll-Akkord in Grundstellung (e-g-h) spielen und auf den Unterschied in Klang und Charakter hören.
Das folgende c” klingt ebenfalls mit dem Sextakkord zusammen. Durch die Reibung mit dem h des Akkordes der linken Hand entsteht jedoch eine Dissonanz (kleine None), die schmerzlich klingt. Im zweiten Takt führt Chopin die Melodie wieder zurück zum h’ und wir könnten denken, „o.k., alles wieder in Butter!“
Aber nein, der Sextakkord verwandelt sich fast unmerklich durch absteigende Sekundschritte der unteren beiden Akkordtöne in ein ganz anderes Klanggebilde. Dieses klingt mit dem h’ der Melodie nun völlig anders als im ersten Takt. Denn erst einmal ist der Akkord der linken Hand selbst schon dissonant aufgrund der kleinen Septime fis-e’, dann reibt sich das h’ der Melodie auch noch mit dem a des Akkords (große None). Das Ergebnis ist ein Klang, der wesentlich schmerzlicher als der vorherige ist.
Dissonanzen wollen sich auflösen! Spannung strebt nach Entspannung, der Leitton möchte sich nach oben auflösen, die Septime nach unten und so erwarten wir, dass es jetzt aber mal langsam gut ist und der Schmerz ein Ende hat. Was macht Chopin?
Überraschungen
Er denkt gar nicht dran! Er komponiert wieder und wieder gegen unsere Erwartungen und führt uns mit den weiteren Akkordprogressionen in eine Welt voller rätselhafter Klangfarben, die sehr vielschichtige Emotionen ausdrücken. In einem Zusammenklang, in der harmonischen Abfolge dieses die Melodie färbenden Klangteppichs können gleichzeitig Schmerz und Hoffnung, Trost und Verzweiflung, Resignation und Wärme erklingen, wobei die Empfindungen zwar von Spieler zu Spieler unterschiedlich sein werden, jedoch jeder Zusammenklang und jede Akkordfolge eine eigene musikalische Aussage besitzt.
Das alles zu hören, braucht Zeit!
Zeit lassen
Es ist deshalb nötig, sich ganz vom Tempo und sogar vom Rhythmus zu lösen und sich in totaler Zeitlupe nur auf die vertikalen Zusammenklänge zu konzentrieren (Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit)! Wir schlagen den ersten Akkord in Takt 1 an, halten ihn und lauschen. Wir schlagen ihn vielleicht mehrmals an, um seinen Klang und seinen Charakter tief in uns aufzunehmen. Diese Vorgehensweise wiederholen wir bei jedem neuen Zusammenklang. So z.B. beim c” der Melodie des ersten Taktes, beim h’ des zweiten Taktes, beim Akkordwechsel im zweiten Takt auf der zweiten Zählzeit (nicht vergessen, denn auch hier ändert sich der Klang!), beim c” der Melodie im zweiten Takt etc.
In die Tiefe gehen
Dieses vertikale Hören bringt ungeheuer viel, weil wir so die harmonische Vielschichtigkeit eines Werks im Zusammenklang erleben. Es lohnt sich sehr, diese Hörperspektive einzunehmen, denn es entgeht uns eine Menge, wenn wir dies nicht machen. Es ist doch zu schade, immer nur auf der Wasseroberfläche zu schwimmen, wenn man auch tauchen kann und dann plötzlich die zauberhafte und geheimnisvolle Welt der Korallen vor sich sieht.
Auch wenn wir am Ende das Werk im Originaltempo spielen, wird das, was wir beim vertikalen Hören erfahren, erlebt und empfunden haben, in unserer Interpretation hörbar sein! Zudem lassen die verschiedenen Hörperspektiven das Üben zu einem sehr sinnlichen, abwechslungsreichen, erfüllenden und dabei auch noch effektiven Üben werden, das Freude macht, motiviert und begeistert.
Zwischenfrage: gleich zusammen mit beiden Händen beginnen oder erst einzeln üben?
Die Überlegungen der vorherigen Punkte sind wichtig zur Beantwortung einer häufig gestellten Frage. Sollen wir gleich zusammen oder erst einzeln üben?
Diese Frage legt den Fokus auf unsere körperlichen Voraussetzungen: wir haben zwei Hände. Sie sollte aber den Fokus auf die musikalischen Strukturen legen: sehr oft gibt es mehr als zwei Stimmen oder Klangschichten.
Wie oben erwähnt ist „stimmenweise“ nicht gleichbedeutend mit „einzeln“, denn eine Stimme kann sich auch auf beide Hände verteilen und eine Hand kann mehrere Stimmen gleichzeitig spielen. Nur wenn zwei Stimmen separat mit zwei Händen gespielt werden, ist „stimmenweise“ gleich „einzeln“.
Die Frage muss also heißen:
Gleich zusammen mit beiden Händen beginnen oder erst stimmenweise üben?
Die Antwort hängt von verschiedenen Faktoren ab!
Die Struktur des Stückes
Die Struktur bestimmt die Herangehensweise an ein neues Klavierstück insofern, als dass komplexere Stücke mit vielen Stimmen eine andere Herangehensweise benötigen als einstimmige Stücke oder Stücke mit wenig Stimmen. Bei einer vierstimmige Fuge wird jede Stimme für sich, werden alle möglichen Stimmkombinationen geübt und in ihren Zusammenklängen (vertikales Hören) durchgehört werden müssen. Bei einem Stück wie der „Kleinen Studie“ aus dem „Album für die Jugend“ von Schumann oder einem in der Regel homophonen Choral können wir direkt beide Hände zusammenspielen.
Grundsätzlich geht es bei der Annäherung an ein Stück niemals in erster Linie darum, was manuell machbar ist, sondern es geht um das, was musikalisch machbar ist.
Was wir hören, das spielen wir auch und was wir nicht hören, spielen wir auch nicht. Unser musikalisches Verständnis und unser Klangsinn hinken manchmal unseren rein manuellen Fähigkeiten hinterher – also müssen wir so üben, dass wir hören und verstehen!
Das stimmenweise Üben hat eine unglaubliche Transparenz in der Klanggestaltung zur Folge! Wenn wir hören und verstehen, werden wir merken, dass ganz andere manuelle Fähigkeiten notwendig sind, als wir bisher dachten. Es heißt nicht umsonst Anschlagskunst und Klangkultur!
Das stimmenweise Üben ermöglicht uns, klanglich so differenziert wie möglich spielen zu können und die eigene Klangvorstellung immer klarer werden zu lassen. Wir hören, empfinden und verstehen Melodien, Linien und horizontale musikalische Strukturen. Während der Erarbeitung eines Stücks und auch danach können wir in immer größeren Abständen diese Schritte wiederholen – abgesehen von weiteren Vorteilen wie Sicherheit im Spiel und Leichtigkeit im Auswendiglernen wird sich die musikalische Gestaltung immer weiter verfeinern und verbessern.
Die Fähigkeiten des Spielers
Die Fähigkeiten des Spielers bestimmen ebenso wie die Struktur des Stückes die Herangehensweise. Anfänger werden in der Regel zwei- oder mehrstimmige Stücke zunächst stimmenweise/einzeln üben. Sie müssen sich technische und musikalische Grundlagen erst einmal erarbeiten.
Auch für fortgeschrittene Klavierspieler ist es wichtig, das neue Stück von dieser Hörperspektive aus kennen zu lernen. Selten ist die nötige Übung und Erfahrung vorhanden, alle Stimmen mit ihren Einzelheiten und Gestaltungsmöglichkeiten aus dem Gesamtklang zu erschließen.
Ist ein Klavierspieler schon sehr fortgeschritten und hat ein feines Gehör und tiefgreifendes Musikverständnis sowie die notwendigen Fähigkeiten zur technischen Umsetzung erlangt, spricht nichts dagegen, auch ein komplexeres Stück gleich mit beiden Händen zu spielen. In der Regel jedoch – und das betrifft auch Musikstudenten – ist die innere Klangvorstellung beim Lesen eines Notentextes und seine klangliche Umsetzung noch nicht so ausgeprägt, als dass das stimmenweise Üben gänzlich überflüssig würde.
Manchmal kann es sinnvoll sein, jede Hand auch dann einzeln zu üben, wenn Stimmen sich auf beide Hände verteilen. Das gilt vor allem für sehr schwierige Stellen, bei denen wir uns auf die technische Umsetzung der einzelnen Hände konzentrieren wollen.
Ein Problem besteht auch dann, wenn ein Spieler denkt, er hätte die musikalischen und technischen Fähigkeiten, aber nicht hört, dass sein Spiel klanglich undifferenziert klingt. Er denkt, er verstünde, was da steht, hat aber noch nicht das nötige musikalische Know-how erworben.
Es lohnt sich sehr, dies mit dem stimmenweisen Üben zu überprüfen. Wenn der Spieler bei diesem Üben tatsächlich nichts Neues hört, ihm die musikalischen Strukturen nicht klarer werden und er alles sofort locker spielen kann, ist er vermutlich in der Lage, auch bei ausschließlich beidhändigem Spiel alles zu hören.
Musikalisch vor manuell
Ein häufig geäußerter Kritikpunkt gegenüber stimmenweisem Üben lautet, dass bei dem dann folgenden Zusammenspiel die Bewegungen beider Hände quasi synchronisiert und damit neu gelernt werden müssten. Da könne man doch gleich mit beiden Händen beginnen, um sofort die richtigen Bewegungen auszuführen.
Diese Überlegung lässt außer Acht, dass das Ohr die Bewegung steuern muss und nicht umgekehrt! Üben wir sofort zusammen, ohne dass wir die musikalischen Elemente innerlich hören und verstanden haben, stellen wir wieder die manuelle vor die musikalische Bewältigung mit entsprechendem Ergebnis.
Wenn wir stimmenweise üben, erwächst daraus ein immer weiter zu verfeinerndes Ideal einer Klangvorstellung dieser Stimmen. Dieses Ideal führt uns und wir kommen an ihm nicht mehr vorbei. Gleichzeitig nutzen wir zur Umsetzung dieser Klangvorstellung möglichst durchlässige und zweckmäßige Bewegungen. Wenn wir dann zusammen spielen, werden wir zum Ziel haben, dass die Stimmen genauso gut im Zusammenklang klingen wie allein. Unsere Klangvorstellung führt uns und wir werden die zur Umsetzung nötigen Bewegungen finden.
Aber auch hier gilt, dass bei entsprechenden musikalischen und technischen Fähigkeiten sofort zusammen geübt werden kann.
Unterschiedliche Tempi
Ein großer Vorteil des stimmenweisen Übens sind die unterschiedlichen Tempi, in denen wir spielen! Wenn wir sofort zusammen üben, schaffen wir das in der Regel nur langsam. Im langsamen Tempo führen wir die Bewegungen aber anders aus als im schnellen. Manchmal sind sie nur kleiner, manchmal aber auch ganz anders. Unser Ohr gewöhnt sich außerdem an die langsamen Tempi und es kann dann schwer fallen, das Tempo zu erhöhen.
Wenn wir stimmenweise üben, spielen wir die verschiedenen Stimmkombinationen in unterschiedlichen Tempi! Eine Melodie lässt sich nach dem ersten Kennenlernen oft schon im Originaltempo spielen, eine Basslinie ebenso. Die ausführenden Bewegungen sind dabei fließend und nähern sich der endgültigen Bewegungschoreographie bereits an. Die Kombination beider Stimmen spielen wir dann vielleicht etwas langsamer, alle Stimmen zusammen noch langsamer.
In dem Fall ist das langsame Tempo kein Problem, denn wir haben einzelne Stimmen bereits in der erforderlichen Geschwindigkeit gespielt und die dafür nötigen Bewegungsmuster etabliert.
Der Vorteil des stimmenweise Übens liegt also nicht nur in der gegenseitigen Ergänzung dieser im Tempo verschiedenen Stimmkombinationen und damit dem Ausbau einer differenzierten Klangvorstellung, sondern auch in einer differenzierten Bewegungsfindung durch die unterschiedlichen Tempi. Zudem kann es mehr Sicherheit verleihen, wenn wir nicht nur die motorischen Abläufe beider Hände, sondern auch die jeder einzelnen Stimme kennen und abspeichern.
Weniger ist oft mehr
Ein weiterer entscheidender Punkt betrifft den Grundsatz, dass wir uns nicht zuviel vornehmen sollten! Wir laufen sonst Gefahr, Fehler zu machen, diese aber nicht zu bemerken. Spielen wir alles gleich zusammen, könnte es sein, dass wir manuell sehr gestresst sind, uns nicht mehr ausreichend zuhören können und verkrampfen. Dann geht es nur noch darum, die richtigen Tasten anschlagen zu wollen und nicht mehr um die musikalischen Zusammenhänge. Abgesehen von dem erheblichen Stress und Druck kann daraus kein lebendiges Klavierspiel in Achtsamkeit und Gelöstheit resultieren. Auch hier hängt es natürlich von den musikalischen und technischen Fertigkeiten des Spielers ab, inwieweit er trotzdem diesen Weg gehen kann.
Körperschwerpunkt
Der letzte Punkt betrifft die Überlegung, dass bei stimmenweisem Üben, bei dem nicht immer beide Hände spielen, der Körperschwerpunkt ein anderer ist als bei gleichzeitigem Spielen beider Hände. Es ist richtig, dass das Körpergefühl ein anderes ist, wenn eine Hand spielt und die andere beispielsweise locker neben dem Körper hängt, als wenn beide Hände spielen und sich auf der Tastatur befinden.
Erstens jedoch können wir die ruhende Hand auch entspannt auf dem Oberschenkel oder sogar auf der Tastatur selbst ablegen. Zweitens sorgt ein stabiler Sitz mit intensivem Kontakt zum Boden und zur Sitzfläche dafür, dass der Körperschwerpunkt nicht verlagert wird! Eine Ausnahme bilden Stellen, bei denen wir länger sehr schräg sitzen müssen, weil beide Hände hoch im Diskant oder tief im Bass spielen. Dann werden wir beim Üben eher den Stuhl verrücken zur Vermeidung von Rückenschmerzen oder alternativ in anderen, bequemeren Lagen (Oktavierung) spielen.
Resümee
Aus all diesen Überlegungen ergibt sich zwingend der Schluss, dass das stimmenweise Üben ein wichtiger und oft entscheidender Baustein eines variablen und vielfältigen Übens ist! Es erleichtert den Einstieg ins Üben und mutet uns nicht zuviel zu. Es macht uns direkt mit wichtigen musikalischen Elementen vertraut. Hörend, fühlend und sehr bewusst erleben wir die horizontalen Klangstrukturen und können sie immer differenzierter gestalten.
Gleichzeitig experimentieren wir mit den Kombinationen dieser Stimmen, mit dem Erleben harmonischer und musikalischer Strukturen, das die Verwendung beider Hände zur Folge hat! Insofern schränkt uns die Fragestellung „stimmenweise/einzeln oder zusammen üben“ viel zu sehr ein! Kein entweder-oder! Kreativ, vielfältig und lebendig üben, das Stück „durchzuhören“ in all seinen musikalischen Elementen und Entwicklungen – ein solches Üben schenkt Freiheit und macht Freude!
Das stimmenweise Üben grenzt also andere Perspektiven und Herangehensweisen in keinster Weise aus! Im Gegenteil! Ewig einzeln oder stimmenweise zu üben ist langweilig und bringt uns nicht weiter. Kreativ und lebendig bedeutet, dass möglichst schnell andere Hörperspektiven wie das „vertikale Hören“ und andere Übestrategien, zu deren Umsetzung wir beide Hände benötigen, miteinbezogen werden!
Wie schnell, ist individuell sehr verschieden! Wir setzen uns nicht unter Druck! Jeder nach seinen Fähigkeiten! Stellen in einem Stück werden je nach Schwierigkeitsgrad verschiedene Stadien in unterschiedlichen Tempi besitzen.
Ganz entspannt, neugierig und mit wachen Ohren werden wir auf diese Weise immer neue musikalische Aspekte wahrnehmen, die sich allmählich zu einem großen Ganzen ergänzen! Unsere Motivation wird aufrechterhalten auf dieser Entdeckungsreise und das alles macht Spaß!
3. Hörperspektive: Gerüst herausfinden – Töne weglassen
Um musikalische Strukturen verstehen zu lernen und uns Stellen vorübergehend zu erleichtern, können wir beim Üben Töne weglassen. So filtern wir eine Art Gerüst aus dem Notentext heraus, das uns führt und Phrasen und Entwicklungen verdeutlicht. Letztendlich ist auch das stimmenweise Üben Teil dieser Methode.
Ich möchte Ihnen vier Beispiele vorstellen, bei denen u.a. auf diese Weise geübt werden kann:
Beispiel 1 – „2 in 1“
Sie sehen hier einen Ausschnitt des Präludiums e-moll BWV 938 aus den „Sechs kleine Präludien für Anfänger auf dem Klavier“ von J. S. Bach. In der rechten Hand ab dem 6. Takt der ersten Zeile befinden sich Sechzehntelketten, die von Achteln der linken Hand begleitet werden.
Es scheint sich also im Violinschlüssel nur eine Stimme zu befinden. Wenn wir jedoch genau hinhören und -sehen, erkennen wir die versteckte melodische Polyphonie, die es gerade bei Bach häufig gibt. Denn in Wirklichkeit ist die rechte Hand zweistimmig! Optisch dargestellt ist die Zweistimmigkeit durch die beiden Farben gelb und rot.
Wenn wir nun üben, können wir die rot markierte zweite Stimme erst einmal weglassen und unser Ohr auf die gelb markierte Hauptstimme fokussieren. Es löst oft ein Aha-Erlebnis aus, so zu üben! Uns fällt es wie Schuppen von den Augen und wir denken: „Stimmt ja!“
Dann können wir die rot markierte zweite Stimme spielen. Bei ihr sind vor allem die Sekundschritte abwärts c”-h’ und jeweils zwei Takte später h’-a’ bzw. a’-g’ interessant. Es wird klar, dass die „1“ des 1., 3., und 5. Taktes der zweiten Zeile immer unbetont ist.
Anschließend können wir diese beiden Stimmen mit zwei Händen spielen (gelb markierte Stimme mit links, rot markierte Stimme mit rechts oder umgekehrt). Wir können sie zunächst bequemer in unterschiedlichen Registern (Oktavierung) spielen, oder eine Stimme singen, die andere spielen…. . Der Kreativität ist kein Ende gesetzt!
Durch dieses Üben, das dem stimmenweisen Üben sehr ähnlich ist, erleben wir die musikalische Struktur. Hier besteht sie im Dialog der verschiedenen Stimmen, den wir durch ein solches Üben plastisch hörbar machen. Natürlich müssen wir dazu diese Stimmen überhaupt erst einmal erkennen, aber das ist eine Frage der Übung. Je mehr wir auf diese Weise üben, desto besser werden wir solche Strukturen erfassen.
Beispiel 2 – der rote Faden
Hier sehen Sie den Beginn des 1. Satzes der Sonate c-moll D 958 von F. Schubert. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass oft bestimmte Töne eine Phrase führen und immer ein harmonisches Gerüst existiert, das Phrasen und Themen zusammenfasst. Spielen Sie einmal die markierten Töne!
Melodische Linie
In Sekundschritten steigt diese melodische Linie wie bei einer Tonleiter zunächst auf, um in Takt 4 den Raum mit einem Oktavschritt zu weiten. Anschließend wächst mit den folgenden chromatischen Schritten die Spannung ins Unermessliche: wo geht es hin? Wo sind wir? Eine Überraschung folgt in Takt 7: zum ersten Mal ein Sekundschritt nach unten. Ob es weiter nach unten geht? Aber nein: die Linie schwingt sich weiter auf, stürmt in größeren Intervallen immer höher. In Takt 10 wieder ein Sekundschritt abwärts. Das erwarten wir auch in Takt 12 – was zweimal war, wird doch wohl auch ein drittes Mal erscheinen! Aber nein! Ein Quartsprung nach oben zum as”’, dem Höhepunkt der ganzen Linie, überrascht uns wieder und erzeugt eine ungeheure Dramatik und Wucht. Unterstützt wird dieser Höhepunkt von der Dynamik, einem ff nach einem langen cresc.
Zusammen mit dem vollgriffigen akkordischen Satz und der rhythmischen Struktur ergibt sich ein Anfang, der es in jeder Hinsicht in sich hat.
Deutlicher zu hören ist dies alles im nächsten Schritt.
Harmonisches Gerüst
Dabei spielen wir die den gelb markierten Führungstönen unterlegten Akkorde mit und erleben so das harmonische Gerüst. Wir können uns seinem Sog kaum entziehen! Die führenden Töne stehen immer in einem harmonischen Zusammenhang und die Harmonien in Beziehungen von Spannung und Entspannung. Hören Sie! Wo spannt es sich, wo entspannt es sich?
Es lohnt sich auch sehr, das harmonische Geschehen verbal zu reflektieren und Kenntnisse in Harmonielehre zu besitzen. So werden wir uns der musikalischen Strukturen viel bewusster!
Wenn wir uns der führenden Linien und dem harmonischen Aufbau bewusst sind, werden wir auch sehr lange Phrasen und Themen unter einem Spannungsbogen spielen und den Aufbau eines Werks zwingend gestalten können!
Beispiel 3 – keine Ablenkung durch Schwieriges
In diesem Notentext (ab 3. Takt der 1. Zeile) des Nocturnes c-moll op. 48,1 von F. Chopin lohnt es sich, die Oktavpassagen erst einmal wegzulassen, um so das Gerüst, das die Phrase zusammenhält, zu erkunden und zu hören.
Wir spielen also zunächst die Melodie. Dabei stellen wir vielleicht überrascht fest, dass wir diese Melodie schon aus den vorherigen Takten kennen und das im 3./4. Takt der 1. Zeile die Melodie in die 2. Stimme (e”-d”-e”-f”-e”) gerutscht ist.
Wir können aber auch je nach unseren Fähigkeiten die Melodie sofort mit den entsprechenden Akkorde zusammen spielen. Wir hören ihre melodische, harmonische und rhythmische Struktur. und vergleichen sie mit dem Anfang diese Mittelteils.
Anschließend können wir die Oktavpassagen gesondert üben. Der Vorteil einer solchen Herangehensweise besteht darin, dass wir die Phrase nicht aus den Ohren verlieren, indem wir uns von den technisch schwierigeren Oktavpassagen zu sehr ablenken lassen. Vielmehr gliedern wir die Passagen im Timing genau in die Phrase ein. Auf diese Weise bekommen die musikalischen Elemente ihre Bedeutung nach ihrem musikalischen Gehalt und nicht nach ihrer technischen Schwierigkeit!
Beispiel 4 – Verzierungen erst mal weglassen
Das Beispiel dieses Ausschnittes aus dem Nocturne Des-Dur op. 27,2 von F. Chopin steht stellvertretend für Stellen, in denen Verzierungen den roten Faden einer Melodie o.ä. ausschmücken. Solche Verzierungen kann man zunächst weglassen! So verlieren wir auch hier die Phrase in ihrem Aufbau und ihrer Struktur nicht „aus dem Ohr“. Spielen Sie also die gelb markierten Noten zusammen mit der linken Hand!
Diese Vorgehensweise ist an dieser Stelle außerdem sinnvoll, um die hier geforderte Polyrhythmik zu üben. Zu diesem Zweck kann alternativ auch die Stimme der innenliegenden Sechzehntel der linken Hand weggelassen werden! Dazu spielen wir nur Bass und die komplette rechte Hand. Wir hören dann, in welchem Tempo die Ausschmückungen gespielt werden müssen. Unsere Klangvorstellung wird geschult und wir können später entsprechend dieser Klangvorstellung die Stimmen zusammenfügen.
Diese vier Beispiele geben einen Einblick in die Welt der unendlichen Möglichkeiten durch das Weglassen von Tönen. Auf diese Weise wird die Grundstruktur, das Gerüst, der rote Faden eines Stücks in melodischer, harmonischer und rhythmischer Hinsicht hörbar. Das eigene Spiel wird klarer und zwingender, wenn wir aus dem Notentext dieses Grundgerüst herausfiltern. Wir verstehen, was wir spielen und das hört man!
4. Hörperspektive: Gerüst herausfinden – Töne hinzufügen
Das harmonische Gerüst
Nicht immer ist das harmonische Gerüst so leicht zu erkennen wie in den vorangegangenen Beispielen, bei denen das musikalische Material bereits aus Akkorden besteht.
Im vorliegenden Notenbeispiel des Präludiums D-Dur BWV aus dem Wohltemperierten Klavier von J.S. Bach werden Sechzehntel der rechten Hand, die im Übrigen auch melodisch polyphon sind (versteckte Polyphonie, s.o.), von getupften Achteln auf jeder Zählzeit im Bass begleitet.
Auch wenn hier keine Akkorde zu erkennen sind, liegt dem Stück ein harmonisches Gerüst zugrunde, das von diesen Sechzehntelnoten umspielt wird. Zum harmonischen Verständnis des Stücks lohnt es sich sehr, dieses Gerüst herauszufiltern. Dazu bestimmen wir die Harmonien und spielen die jeweiligen Akkorde wie folgt:
Die Harmonien erklingen hier halbtaktig entsprechend dem Verlauf der Basslinie (jeder 2. Ton der linken Hand). Hören Sie beim Spielen auf die Beziehungen der Akkorde von Spannung und Entspannung. Wo erklingen Dissonanzen, lösen sie sich anschließend auf und wenn ja, wohin?
Es lohnt sich auch hier, Kenntnisse in Harmonielehre zu besitzen, mit deren Hilfe wir über das harmonische Geschehen reflektieren können. Wir nehmen die Zusammenhänge bewusster wahr, weil wir unser Ohr und unser Hirn für diese Zusammenhänge geschult haben. Im Beispiel habe ich die Harmonien in die Mitte geschrieben und Funktionen wie Tonika, Subdominante, Dominante weggelassen.
Spaß macht es, zu zweit zu musizieren, wenn möglich an zwei Instrumenten: einer spielt das Gerüst, der andere das Stück wie notiert. Sie können aber auch das Gerüst spielen und sich die Sechzehntel dazu vorstellen oder (vermutlich oktaviert) singen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt!
Wenn wir diese Hörperspektive einnehmen, erlangen wir ein größeres harmonisches Verständnis und erleben die Spannungsverläufe der Phrasen und die Eingliederung der Sechzehntel. Unser Spiel erlangt Struktur und Lebendigkeit!
4.3 Erkennen
Auf unserer Entdeckungsreise haben wir viel erlebt! Wir haben unternehmungslustig, genießerisch und mit allen Sinnen unser neues Klavierstück aus allen möglichen und unmöglichen Perspektiven erkundet, wir haben mitgefühlt und vielleicht manchmal auch mitgelitten. Mit Neugier und Forschergeist haben wir das Stück inwendig kennen gelernt und durch die vielen Herangehensweisen eine große Sicherheit erworben. Unser Üben war abwechslungsreich und spannend und wir spielen das Stück so, wie wir es erlebt haben: ausdrucksvoll und lebendig!
Das Schöne daran ist, dass die Reise nie zu Ende geht und wir immer etwas entdecken werden, was uns noch nie aufgefallen war! Kreativ und flexibel erkunden wir weiter die musikalische Welt!
Ich wünsche Ihnen viel Freude dabei!
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