Technische Übungen als Hoffnungsschimmer am Horizont: wie schön wäre es, wie Liszt über die Tasten zu fliegen, donnernde Oktaven auf das Klavier zu werfen oder perlende Läufe und Trillerketten glitzern zu lassen!

Technische Übungen

Die Mühelosigkeit großer Pianisten, ihre Ideen klanglich zu verwirklichen, können wir uns auch im Kleinen zum Vorbild nehmen. Es macht uns glücklich, wenn wir unsere Stücke so zum Klingen bringen, wie wir uns das vorstellen. Ob das Stücke aus Tschaikowskys Jugendalbum, dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach oder virtuose Werke von Chopin und Liszt sind, spielt dabei keine Rolle. Die musikalischen und technischen Grundlagen sind dieselben! Um ein Werk gleich welchen Schwierigkeitsgrades klanglich differenziert und ausdrucksvoll spielen zu können, benötigen wir ein waches Ohr, ein gutes Musikverständnis, eine möglichst klare Klangvorstellung und eine gute Technik.

3.1 Voraussetzungen für eine solide technische Grundlage

„Klimpere nie!“

Robert Schumann

Dazu bedarf es einiger Übung. Wir entwickeln uns dann musikalisch und technisch weiter, wenn wir in feiner Interaktion von Ohr und Sensomotorik unser inneres Hören mit den tatsächlich gespielten Klängen vergleichen. Dabei verbessern wir stetig sowohl unsere Klangvorstellung als auch die Koordination unserer Bewegungen.

Die Genauigkeit und ständige Verfeinerung unserer inneren Klangvorstellung ist für unser technisches Vermögen also essentielle Voraussetzung, die künstlerische Absicht stimmt im besten Fall mit ihrer Verwirklichung überein (Goldenweiser, s. Klaviertechnik 1 – Grundlagen). Nur durch eine feine Klangkontrolle über das Ohr können wir wissen, ob wir tatsächlich mit unserem Üben eine Verbesserung des Klangs erreicht haben und die richtigen Bewegungen ausführen! 

3.2 Nachteile technischer Übungen

„Du sollst Tonleitern und andere Fingerübungen fleißig spielen. Es gibt aber viele Leute, die meinen damit Alles zu erreichen, die bis in ihr hohes Alter täglich viele Stunden mit mechanischem Üben hinbringen. Das ist ungefähr ebenso, als bemühe man sich täglich das ABC möglichst schnell und immer schneller auszusprechen. Wende die Zeit besser an.“ 

Robert Schumann

Gehör schaltet ab

In der zwingend notwendigen engen Verbindung Klangvorstellung – Klangerzeugung liegt die Gefahr von technischen Übungen, die eine bestimmte spieltechnische Schwierigkeit isolieren, also aus dem musikalischen Kontext herauslösen und in konzentrierter Form anbieten. Der Vorteil besteht darin, dass der Spieler sich ausschließlich der Bewältigung des technischen Problems widmen kann. Er lässt komplexe musikalische Aspekte erst einmal außen vor. Der gravierende Nachteil kann jedoch sein, dass der Spieler ohne musikalischen Kontext sein Ohr quasi abschaltet und die Übungen in sehr mechanischer Weise ausführt. Dann sind solche Übungen sehr schädlich, denn sie führen zu musikalischer Gleichförmigkeit und mechanischem Spiel!

Mechanisches und undifferenziertes Spiel

  • Passagen- und Geläufigkeitsübungen à la Hanon, Czerny u.a. werden oft mechanisch geübt und nicht/wenig variiert. Die einzelnen Töne werden in immer gleicher Lautstärke, Artikulation und Phrasierung gespielt. Das Ziel ist das Training der Finger, die Erhöhung des Tempos und Gleichmäßigkeit – musikalische Gleichförmigkeit wird in Kauf genommen.
  • Diese Figurationen bestehen jedoch aus Intervallen, Richtungsänderungen, Melodieverläufen. Die Wahrnehmung dieser musikalischen Elemente führt zu einem sehr lebendigen, in Artikulation, Dynamik und Phrasierung sehr nuancenreichen Spiel, ähnlich der Koloraturen von Sängern. Dazu sind allerdings ebenso nuancenreiche technische Fähigkeiten bzw. sehr differenzierte Spielbewegungen erforderlich!
  • Spielen wir diese Passagen immer gleich, reduzieren wir unsere Tätigkeit auf die rein manuelle Ausführung und nehmen die musikalischen Inhalte nicht mehr wahr. Unser Ohr schaltet ab. Die Gefahr, dass wir genauso mechanisch spielen, wenn Passagen in Stücken vorkommen, ist sehr hoch, denn so haben wir ja geübt. Wir haben geübt, bei schnellen Läufen nicht auf die musikalischen Inhalte zu hören und unsere Spielbewegungen so undifferenziert zu gestalten, dass das Ergebnis mechanisch und gleichförmig klingt – dabei wollten wir doch unsere technischen Fähigkeiten aus-, nicht abbauen!
  • Zudem verleiten solche Übungen zu der immer noch verbreiteten, aber falschen Annahme, man müsse nur die Finger stärken in ihrer Kraft und Beweglichkeit, damit man gut und virtuos Klavier spielen könne. Wie in Klaviertechnik 1 – Grundlagen und Klaviertechnik 2 – Der Arm beschrieben, dürfen Teile unseres Bewegungsapparates nie isoliert betrachtet werden! Im Gegenteil geht es um ihre Koordination unter Ausnutzung der Schwerkraft mit Hilfe fließender Bewegungen! Die Finger sind dabei die untergeordneten Endglieder in unserem Kontakt zur Taste und stehen immer in Verbindung mit Arm, Hand, Körper. Wir müssen für eine gute technische Grundlage viel eher lernen, loszulassen, blitzschnell zu entspannen und Impulse und Schwünge zu nutzen! In den meisten Fällen liegen technische Probleme abgesehen von einer mangelnden Klangvorstellung an falschen Bewegungen und zuviel Druck und Muskelspannung!

3.3 Was tun?

Technische Übungen sind also schädlich, wenn wir dabei auf mechanische Weise spielen und uns Dinge dabei angewöhnen, die einer lebendigen Interpretation von Stücken entgegenstehen.

Technische Übungen können trotzdem sehr nützlich sein! Denn wir können uns ganz auf das Erlernen bestimmter Bewegungsabläufe oder ein bestimmtes spieltechnisches Problem konzentrieren. Wir verbessern zwar unsere Technik auch bei der Arbeit an Stücken, jedoch reicht das manchmal nicht aus.

Die Frage ist also, welche technische Übungen uns weiterhelfen, anstatt uns zu behindern, und wie wir diese Übungen ausführen.

3.4 Technische Übungen sinnvoll ausführen

Experimente zu Klang und Bewegung

Gerade im Anfangsunterricht lohnt es sich sehr, kurze, aber regelmäßige Übungen zu machen, um die Wahrnehmung des Körpers zu verbessern, die Sensomotorik zu schulen, den Einsatz des Arms zu erleben und koordinative Bewegungsabläufe wie Ellipsen etc. zu erlernen. Bei diesen Übungen ist eine enge Verbindung zum Klang und zu den Spielstücken erforderlich! Wir experimentieren auf vielfältige Weise. Wir hören und fühlen, wie sich der Klang von Motiven und anderen musikalischen Gestalten entscheidend verbessert und wie unsere Motorik vom Ohr gesteuert wird. Solche Übungen können uns gegebenenfalls immer wieder durch unser pianistisches Leben begleiten.

Musikalischen Kontext erfahren

Es ist ebenfalls sinnvoll, Übungen immer auch in den musikalischen Kontext eines Stückes zu stellen! Wenn wir erleben, dass Passagen einen sehr verschiedenen musikalischen und emotionalen Gehalt haben, dass sie glitzernd und funkelnd, bedrohlich und aufbrausend, geisterhaft und verzweifelt klingen können, werden wir besser hinhören und verstehen, dass wir jede dieser Passagen technisch und klanglich ganz anders darstellen müssen. Wir stellen also Bezüge zu unserem aktuellen oder geplanten Stück her, aber auch zu Auszügen anderer Stücke, in denen solche musikalischen Elemente vorkommen.

Auditiv einführen

Übungen können wir einführen, indem wir auditiv beginnen. Wir singen sie und/oder spielen sie nach Gehör. Wir können sie aufschreiben oder geben nur Bausteine vor u.v.a.m.

Transponieren

Zum Transponieren müssen wir uns sehr gut zuhören und erleben die Intervalle und Klangstrukturen.

Vielfältig variieren

Wenn wir die Übungen – zu denen auch Tonleitern und Arpeggien gehören – in Dynamik, Rhythmik, Tempo, Artikulation, Phrasierung kreativ und variantenreich verändern, sie harmonisieren und ihnen einen unterschiedlichen emotionalen Gehalt verleihen, wird uns nicht langweilig werden! Unser Ohr wird ständig gefordert und mechanisches Spiel stellt sich erst gar nicht ein.

„Blind üben“

Wenn wir die Augen schließen und den Sehsinn ausschalten, fühlen und hören wir intensiver und können technische Übungen klanglich und sensomotorisch besser ausführen.

Bewegungen zunächst übertreiben

Um neue Bewegungsmuster und technische Fertigkeiten zu lernen, sollten wir die Bewegungen zunächst übertreiben. Wir machen sie also größer, als sie wirklich sind! So können wir den Bewegungsablauf besser spüren und verstehen. Wir bekommen ein besseres Gefühl für das Zusammenspiel und die Koordination von Körper, Arme, Hände, Finger. Nach und nach können die Bewegungen dann verkleinert werden. Die letztendliche Ausprägung ist sehr individuell – bei Pianisten wie Horowitz sind Bewegungen kaum noch zu sehen, aber trotzdem vorhanden.

3.5 Technische Übungen selbst kreieren

Viel Spaß macht es, den umgekehrten Weg zu gehen und  technische Übungen selbst zu kreieren!

Wenn wir ein technisches Problem bei der Erarbeitung eines Stückes haben, können wir daraus eine Übung machen, die für uns quasi „maßgeschneidert“ ist. Denn technische Probleme und ihre Lösungen sind immer individuell! Jeder Mensch besitzt verschiedene motorische Anlagen und hat sich im Laufe seines Lebens Bewegungsmuster angewöhnt, die auch sein Klavierspiel prägen.

Außerdem fördert diese kreative Tätigkeit ein waches Ohr, improvisatorische Fertigkeiten, Kenntnisse in Harmonielehre u.v.a.m. In früheren Zeiten ist man oft so vorgegangen: zunächst wurden Passagenübungen im 5-Tonraum erfunden und transponiert. Dann begleitete man diese Passagen, fügte Töne und Verzierungen hinzu und variierte sie, bis ein komplexerer Satz entstand. Dieses sog. Sätzchenspiel konnte sich bis zu eigenen Etüden hin entwickeln und war auch die Grundlage sämtlicher Übungen und Etüden von Czerny. Czerny war ungemein erfinderisch, was solche Sätzchen anging. Nur auf Wunsch der Verleger hat er seine Übungen, die eigentlich Improvisationen waren, aufgeschrieben. Er war aber immer der Ansicht, dass der Spieler selbst kreativ werden sollte.

Besonders im Anfangsunterricht sind solche Übungen wichtig. Übungen von Brahms, Liszt etc. sind viel zu schwer und erst einmal müssen die Grundlagen geschaffen werden, die ich in Klaviertechnik 1 – Grundlagen und Klaviertechnik 2 – Der Arm beschrieben habe. Eigene Übungen zu erfinden fördern die Kreativität, machen Spaß und entwickeln musikalische und technische Fertigkeiten gleichermaßen.

3.6 Technische Übungen in der Klavierliteratur

Sinnvolle Übungen gibt es von Brahms, Liszt und Busoni, von Czerny, Cortot u.v.a. (die Cortot-Übungen bitte nur unter Anleitung, da bei falscher Ausführung Sehnenscheidenentzündungen etc. entstehen können). Sehr zu empfehlen sind auch die Klavierübungen von Feuchtwanger, die  einen ganz anderen Ansatz haben und ein natürliches Bewegungsverhalten am Klavier vermitteln, sowie „Technik des Klavierspiels“ von R. Kratzert. Es lohnt sich auch, „Kunst des Klavierspiels“ von H. Neuhaus, „Die individuelle Klaviertechnik auf der Grundlage des schöpferischen Klangwillens“ von C.A. Martienssen sowie „Greifen und Begreifen“ von A. Hirzel-Langenhan zu lesen.

Die 60 Übungen von Hanon sind in ihrer Gesamtheit wegen ihrer extremen Gleichförmigkeit und der daraus resultierenden Gefahr des mechanischen Herunterspulens abzulehnen! Einzelne Übungen daraus zu nehmen ist möglich, wenn die Herangehensweise auditiv und kreativ erfolgt (s.o.).

3.7 Etüden

Etüden lassen sich oft durch eine kluge Auswahl von Klavierwerken ersetzen. Sie motivieren und fördern oft mehr mit ihrem hohen musikalischen Anspruch. Statt Etüden von Czerny für die Verbesserung der Geläufigkeit können Werke von Bach gespielt werden. Statt einer Vielzahl von Etüden und Übungen zu unterschiedlichsten Themen werden die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-moll WoO 80 von L.v. Beethoven erarbeitet etc. Besonders in der Romantik entstanden allerdings Etüden, die musikalisch wie technisch gleichermaßen anspruchsvoll sind. Dazu gehören Etüden von Burgmüller, Heller, Cramer-Bülow. Mit steigenden Fähigkeiten können die Etüden von Chopin und Liszt erarbeitet werden.  Sie sind bekanntermaßen in einer revolutionären Tonsprache komponiert, die technische Höchstschwierigkeiten mit Poesie und höchster künstlerischer Vollendung verbindet.

In Übetipps bei technischen Problemen werden Möglichkeiten vorgestellt, spezielle technische Schwierigkeiten zu lösen. Ich freue mich, wenn Sie dort weiterlesen!

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